Wie Karoline in die Schweiz kam

Sr. Karoline ist ansteckend. Das weiss jede und jeder, der mit ihr zu tun hat. Wenn man sie kennen gelernt und bei ihrer Arbeit erlebt hat, ist man wie von einem Virus infiziert: Man will/muss helfen, zupacken, ihre vielfältige Arbeit unterstützen, über ihr Leben und Wirken berichten, Produkte ihrer Werkstätten verkaufen, Treffen organisieren. So ging es auch uns, Doris und Karl Kistler. Wir lebten von 1978 bis 1982 in Santiago de Chile. Bei ihrem ehrenamtlichen Einsatz in den Kindertagesstätten der Elendsviertel am Südrand der Stadt wurde Doris auf Karoline aufmerksam gemacht. Erste Treffen führten in die Kinderkrippen und Tagesstätten von Conchali und zu den Frauenwerkstätten der Fundacion Missio. Es war die Zeit der Pinochet-Diktatur, die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich immer schneller als Folge des eingeführten Neoliberalismus, der hohen Arbeitslosigkeit war nicht beizukommen, der Alltag in den Armenvierteln war für viele hoffnungslos.

Nach unserer Rückkehr in die Schweiz liess uns das Erlebte nicht los. Wir wollten mit Chile, Karoline und ihrem Werk in Verbindung bleiben - damals noch ohne Fax und Internet. Im Gepäck hatten wir Arpilleras (Wandbehänge) mit politischen Aussagen aus den Frauenwerkstätten mitgebracht. Bald importierte Doris weitere Kunsthandwerkartikel in grossen Mengen, die sie an Basaren, Standaktionen und über Dritte-Welt-Läden verkaufte. In unserer damaligen Wohngemeinde Herrliberg am Zürichsee liessen sich durch unsere Berichte verschiedene Leute - auch Entscheidungsträger - begeistern und machten mit bei der Gründung des Schweizer Freundeskreises für Sr. Karoline. Der Erlös des ersten grossen Gemeindebasars im Advent 1983 kam zur Hälfte der Fundacion Missio (Vorläufer der Fundacion Cristo Vive) zugute. Als Glücksfall erwies sich der Besuch des Vizepräsidenten der Kirchenpflege (Aufsichtsbehörde) bei Karoline im Armenviertel. Georges Götz, der geschäftlich in Santiago zu tun hatte, liess sich von Karoline derart begeistern, dass er ihr zu einem angesehenen Notar verhalf, der seither unentgeltlich für sie die notariellen Probleme löst. Und zurück in Herrliberg sorgte er dafür, dass die reformierte Kirchgemeinde jährlich eine grosse Spende nach Chile überwies. Enger wurden die Bande durch die vielen Besuche Karolines in Herrliberg und durch eine Reise einiger Mitglieder der Kirchenpflege nach Santiago im Jahr 1997. In bestem ökumenischem Geist trifft man sich zu Gesprächen, Gottesdiensten, Begegnungen. Pfarrer C. Capaul schreibt zu einem Besuch Karolines und Edith Petersens im August 2000: «Wir hatten uns noch nie im Leben gesehen. Aber schon in der ersten Minute war es, als kannten wir uns schon immer. Eine herzliche Umarmung und Küsse eröffneten unsere Begegnung. ... Da war alle Steifheit verflogen und die Herzen waren offen für das sprudelnde Erzählen dieser beiden so engagierten Frauen. ... "Bergpredigt live" habe ich meiner Frau mitten im Gespräch gesagt, denn was Sr. Karoline und Sr. Edith uns berichteten, war wie die konkreteste Illustration zu Worten wie "Gib dem, der dich bittet und wende dich nicht von dem ab, der von dir borgen will".» Von der engen Verbundenheit zwischen Herrliberg und Santiago zeugt der grosse Wandteppich in der reformierten Kirche, der seit gut 20 Jahren den Raum schmückt. (Vgl. Bild)

Ende der 1980er Jahre konnte der Verkauf von textilen Handarbeiten erfreulich ausgeweitet werden. Nebst den nach wie vor wichtigen Standaktionen und Basaren erschloss Doris neue Absatzkanäle. Das Regionallager für Drittweltprodukte in Zürich übernahm grosse Sendungen und bot die Artikel den vielen lokalen Drittweltläden zum Verkauf an. So wurden die farbenfrohen chilenischen Kollektionen fast in der ganzen Schweiz bekannt. In unzähligen freiwilligen Arbeitsstunden wurde die importierte Ware kontrolliert, sortiert, mit Preisetiketten versehen und für die einzelnen Läden zum Verkauf aufgelegt. In Chile war mit der Gründung der Produktions- und Vertriebsorganisation «Prisma de los Andes» ein professioneller Ansprechpartner geschaffen worden, der Anregungen zur Entwicklung von neuen Artikeln aufnahm und mit einem ansprechenden Katalog den Import vereinfachte. Damit nicht vergessen wurde, dass der Ursprung all dieser Handarbeiten in den Frauenwerkstätten von Conchali lag, die zuerst ausschliesslich Arpilleras herstellten, erarbeitete Doris eine Wanderausstellung. So erfuhren die Besucherinnen und Besucher an verschiedenen Orten, dass die Arpilleras zuerst fast ausschliesslich politische und sozialkritische Aussagen thematisierten und oft das einzige Ventil waren, um tiefsitzende Verletzungen und Frustrationen zu äussern.  Mit den langsam sich bessernden gesellschaftlichen Verhältnissen wurden mehr und mehr die schöne chilenische Landschaft sowie Bräuche und Feste dargestellt. - In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre sättigte sich in der Schweiz der Markt für die schönen Handwerksprodukte und Absatzprobleme traten ein, nicht zuletzt wegen der Konkurrenz durch neue Artikel aus anderen Ländern des Südens. Claro, die neue Dachorganisation des fairen Handels in der Schweiz, stellte daher den Import aus Chile ein.

Auch in unserer jetzigen Wohngemeinde Embrach im Zürcher Unterland gelang es, viele Menschen für Karoline und ihre Arbeit zu begeistern. Die direkten Begegnungen mit ihr in Gottesdiensten und Informationsveranstaltungen bleiben allen Teilnehmern in lebendiger Erinnerung. Anlässlich der Jubiläumsfeier «25 Jahre kath. Kirchenzentrum St. Petrus» im Juli 2005 wurde v. a. die Arbeit von «Cristo Vive Bolivia» ins Zentrum gerückt. Der Reinerlös der Jubiläumsfeierlichkeiten, die Kollekte eines Benefizkonzertes, private Spenden und ein namhafter Beitrag der kath. Kirchgemeinde ermöglichen es, in Tirani bei Cochabamba   ein     kleines Gemeindezentrum zu errichten. Dieses Projekt wird vom neu gegründeten Verein «Not-Netz St. Petrus» betreut. Der Wunsch, einmal ganz nah dabei zu sein, wird Ende Oktober 2006 eine Gruppe aus unserer Gemeinde nach Santiago und Cochabamba führen. Wir freuen uns jetzt schon auf die bereichernden Begegnungen und den verstärkten Brückenschlag zwischen engagierten Menschen in Chile, Bolivien und der Schweiz.

Karl Kistler